Leidenssucht
Dr. Ulla Sebastian
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Sucht hat viele Gesichter. Wenn wir hören, daß jemand
süchtig ist, denken wir an Drogen oder Alkohol, vielleicht noch an
Schlaf- oder Beruhigungstabletten. Fernsehen oder gar Leiden tritt nicht
in unser Bewußtsein als etwas, von dem wir abhängig werden könnten.
Und doch: Das, was früher das 'Privileg' der älteren Menschen
war: die körperliche Gebrechlichkeit mit anderen zu teilen, hat sich
über die Ausweitung des therapeutischen Bereichs zu einem Modeartikel
für alle Altersgruppen ausgeweitet. Das persönliche Leiden füllt
viele Stunden Konversation, gibt uns Identität und kann letztlich
unser Leben bestimmen.
Vor kurzem kam ein Mann zu mir, ein Europäer, der seit Jahren
in Japan lebt. Sein Leben nahm vor einem Jahr eine überraschende Wende,
als er in ein anderes Haus übersiedelte. Diese Übersiedelung
war der Beginn einer langen Kette von Ereignissen, in denen sein bisheriges
Leben zusammenbrach. Er steigerte sich immer mehr in Scham und Schuld und
das Gefühl hinein, ein Versager zu sein. Er hatte bei verschiedenen
Therapeuten Hilfe gesucht und offene und mitfühlende Herzen gefunden,
doch änderte dies nichts an seinem innerseelischen Zustand. Im Gegenteil:
er wurde schlimmer.
Bei der Überprüfung der Probleme stellte sich heraus, daß
sie keine existentielle Gefährdung darstellten. Im Gegenteil, mit dem
Verkauf des Hauses hatte er seine finanzielle Situation verbessert, nicht
aber seine Ehe und seine persönliche innere Situation. Während
ich ihm zuhörte, sah ich einen kleinen, neugierigen Jungen, der sich
nicht hervortraute unter diesem Wust von Selbstanklagen. Ich zeigte ihm
an seiner Körperhaltung und Atmung, wie er diesen Zustand aufrechterhielt,
und wie er durch eine Veränderung seiner Atmung und seiner Erdung
eine realistische Einschätzung der Situation gewinnen könne.
Damit war der Boden gelegt, um uns gemeinsam anzuschauen, welches Geschenk
die Selbstanklagen enthielten. Sie stellten sich dar als ein riesiger Feuerstein
mit scharfen, verletzenden Kanten, am dem er sich festhalten konnte und
der ihm Sicherheit und Bestand gab. Dieser Stein war im Laufe des Jahres
immer größer geworden und schien die Flamme, die er selbst darstellte,
zu überwältigen und zu ersticken. Wir veränderten den größten
Teil des Steins in eine Laterne aus solidem durchsichtigem Material, die
der Flamme Schutz und Beständigkeit gab, und ließen einen kleinen
Stein in seiner Hand zurück, als Verbindung zur physischen Welt mit
ihrer materiellen Sicherheit und Familientradition.
Im Laufe der Arbeit konnte er sehen, wie sein Jammern und Klagen
ihn immer tiefer auf einer Spirale nach unten gezogen hatte, mit einer Kraft,
gegen die es keinen Widerstand zu geben schien. Er war der Sucht des Leidens
verfallen.
Diese Geschichte erinnerte mich an eine Konferenz vor zwei Jahren
in Findhorn, bei der es um den Umgang mit Weltproblemen ging. Die Prozeßorientierte
Psychologie, die von Arne Mindell in Zürich entwickelt wurde, stellte
ihre Arbeit mit globalen Fragen wie Rassenproblemen oder der Unterdrückung
von Minderheiten vor. Die meisten Teilnehmer der Konferenz gehörten
der weißen Mittelklasse Europas und der USA an, und nicht wenige
waren im helfenden Bereich tätig.
Zu meiner Überraschung stellten sich die Teilnehmer damit vor,
was sie alles erlitten hatten, und nach ein paar Stunden war ein heftiger
Wettkampf im Gange darum, wer mehr durchgemacht hatte. Ich hatte das Gefühl,
daß man sich ohne die Visitenkarte des eigenen Leidens keine Rederecht
einholen konnte, und schaute daher schweigend und staunend diesem Wettkampf
zu.
Er erinnerte mich an Phasen in der Findhorn-Gemeinschaft, wo das
gemeinsame Mittel der Kommunikation die 'Wundologie' war. In endlosen Sitzungen
und 'sharings' wurden die eigenen Verletzungen aus der Familiengeschichte
verhandelt, doch löste das Mitteilen der 'Wunden' sie nicht auf, im
Gegenteil. Die eigene Misere bewährte sich hervorragend, um etwas Mitgefühl
und Liebe einzuheimsen, ohne daß man an der eigenen Situation etwas
ändern mußte. Das Herstellen einer gemeinsamen Identität
über Wunden wurde zum hauseigenen Stil, bis deren destruktive Seite
unübersehbar wurde.
Ich erlebte noch einmal im Kollektiv, was ich Jahre zuvor in meinem
eigenen therapeutischen Prozeß erfahren hatte. Zu Beginn der Ausbildung
in Bioenergetischer Analyse hatte ich die Vorstellung, daß ich das
eigene Leiden dadurch überwinden würde, daß ich immer tiefer
in es eindringen und es letztlich durchdringen würde. Die Freude schien
wie die Trophäe als Belohnung für das erfolgreiche Leiden. Aber
je tiefer ich ging, je tiefer ich mich einbuddelte, umso schlimmer wurde
es. Meine Therapeuten unterstützten mich in diesem Prozeß, indem
sie nach immer mehr Details Ausschau hielten. Ich habe diesen langen Erkenntnisweg
in meinem Buch: Erfahrungen bei Sai Baba in Indien beschrieben. Doch bedurfte
es noch fünf weiterer Jahre und schmerzhafter Erfahrungen in der Findhorn-Gemeinschaft,
bis ich erkannte, daß dieser Weg in eine Sackgasse führt. Am
Ende des Schlingpfades durch das Leiden lag nicht die Freude, sondern das
Einrichten mit dem Leiden, die Sucht und manchmal der Selbstmord.
Es wurde mir deutlich, daß die Aufarbeitung der eigenen Geschichte,
die Bewußtwerdung des Unbewußten, eine wichtige Arbeit ist,
die anders eingebunden sein muß als in die Struktur des Leidens.
Die Energie fließt in den Bereich, auf den wir unsere Aufmerksamkeit
lenken. Konzentrieren wir uns auf Leiden, verfestigen wir es. Öffnen
wir uns für Freude und Spaß am Leben, wird das Leben farbenfroher,
reicher und erfüllter.
Ich erkannte, daß ich Freude kultivieren muß, wenn ich
Freude in meinem Leben erfahren möchte. Freude ist die Qualität,
die dem Herzen entspringt, wenn es sich dem Fluß des Lebens öffnet.
Bestimmte Prinzipien erleichtern oder erschweren diesen Zugang. Diese
Prinzipien sind Eigenverantwortlichkeit Vergebung, Dankbarkeit und Dienst
am anderen. Diese Begriffe sind nicht neu, und oft werden sie mißverstanden.
Von daher will ich kurz erläutern, was sie für mich bedeuten
und in welchem Zusammenhang sie mit der Kultivierung der Freude stehen.
Verantwortung hat damit zu tun, daß ich meine Lebensumstände
als meine eigene Kreation erkennen kann. Viele Menschen empfinden sich
als Opfer des Schicksals. Sie fühlen sich den Umständen ohnmächtig
ausgeliefert und haben nicht die Macht oder Kraft, ihre Lage zu ändern.
Wenn ich mir die Menschen anschaue, mit denen ich arbeite und die solche
Gefühle mitteilen, muß ich oft ihren Eindruck bestätigen.
Es fehlt ihnen sowohl an innerer wie körperlicher Kraft und an Selbstdisziplin,
diese Kraft aufzubauen. Der Komfort unseres Lebensstils trägt nicht
dazu bei, unsere Widerstandskraft und Ausdauer zu stärken. Selbstdisziplin
hat einen negativen Beigeschmack als Pflichtübung oder Unterwerfung
unter Autorität oder zumindest als Einschränkung unserer persönlichen
Freiheit. Uns fehlt ein Verständnis von Selbstdisziplin als Fähigkeit,
das zu empfangen, was uns bereits gehört. Um empfangen zu können,
brauche ich einen Behälter, in den das Universum seine Gaben hineinschütten
kann. Ohne den Behälter versickert die Energie wie ein Fluß,
dessen Flußbett ausgeufert ist. Das Flußbett der meisten Menschen,
die ich in meiner Praxis sehe, hat unklare Konturen und Löcher, durch
die die eigene Lebensenergie wegrieselt. Ihnen fehlt die Kraft, das in ihrem
Leben zu erreichen, was sie möchten. Als erstes muß ich daher
das Flußbett so ausbessern, daß es den Fluß der Energie
halten und in die gewünschte Richtung lenken kann. Diese Reparaturarbeit
oder gar Neukonstruktion erfordert tägliche, disziplinierte Übung.
Der Unterschied zu der Autorität von außen liegt darin, daß
es meine Wahl ist, meine Verantwortung, ob ich mich dieser Anstrengung unterziehen
will, um mein Leben in den Griff zu bekommen, oder nicht.
Im nächsten Schritt muß ich die neugewonnene Kraft dazu
nutzen, mit meiner Vergangenheit aufzuräumen. In meinem Artikel: 'Die
Falle der eigenen Geschichte' habe ich auf die Fallstricke hingewiesen, die
unsere eigene Konstruktion von Wirklichkeit für uns bereithält.
In der Leidenssucht baue und verfestige ich meine Version davon. Vergebung
bedeutet die Bereitschaft, meine eigene Geschichte loszulassen und mir wesentliche
Ereignisse meines Lebens aus der weiteren Perspektive meines Seelenvertrages
anzuschauen. Im Verständnis der Lektionen dieser Ereignisse, der
Geschenke, die diese für mich bereithalten, liegt die Loslösung
von der negativen Kraft dieser Begebenheiten. Meist muß ich dafür
noch einmal in das Geschehen hinein und durchgehen, um seine Bedeutung
zu verstehen. Mißverstandene Vergebung würde bedeuten, daß
ich aus Angst vor den darin gebundenen Gefühlen oder den Veränderungen,
die sich aus einem genauen Hinschauen ergeben, den Betreffenden lieber
verzeihe. Damit kann ich mich überlegen fühlen und muß
nichts verändern. Vergebung in oben genannten Sinne ist ein Loslassen
und zugleich ein Annehmen der Tatsache, daß die Umstände meines
Lebens meine eigene Gestaltung sind, die ich aus diesem Grunde verändern
kann.
Dankbarkeit ist der Schlüssel zum Glück. In unserer Wohlstandsgesellschaft
nehmen wir viele Gegebenheiten als so selbstverständlich hin, daß
es uns gar nicht in den Sinn kommt, dafür dankbar zu sein. Wie viele
von Ihnen sind dankbar dafür, daß Sie mit ihrem Paß durch
jeden Zoll gehen können, ohne langen Untersuchungen ausgesetzt zu
sein? Daß Sie im Winter ein warmes Dach über dem Kopfe haben
und genügend zu essen? Bei einem meiner workshops sagte mir eine sehr
depressive Frau nach einer Meditation zum Thema Dankbarkeit, daß sie
sich nie darüber Gedanken gemacht habe, daß erst ihr Vater und
jetzt ihr Ehemann für ihre finanzielle Sicherheit gesorgt hätten.
Sie schaue immer nur auf das, was sie nicht habe. Und dies geht nicht nur
ihr so. Unsere kulturelle Einstellung ist auf Mangel ausgerichtet, nicht
auf Fülle. Unsere Lebenslagen spiegeln das wider, womit wir im Innersten
übereinstimmen. Es ist eine gute und heilsame Übung, uns jeden
Abend neu über die Reichtümer unseres Lebens Rechenschaft abzulegen.
Der Dienst am Menschen ist ein hehres Ziel, das von allen Traditionen
als ein Weg zum eigenen Glück gerühmt wird. Von meiner eigenen
Erfahrung konnte ich das lange nicht nachvollziehen. Statt gefüllt
aus den vielen Erfahrungen des Dienens hervorzugehen, die ich in meinem
Buch über mein eigenes Leben und mein Erwachen bei Sai Baba beschrieben
habe, erfuhr ich diesen Dienst als Pflicht, als Verantwortung, unter deren
Druck ich mehr als einmal ausbrannte. Erst vor ein paar Jahren lernte ich
den Unterschied zwischen helfen und dienen. Auf einem Spaziergang spürte
ich einen Drang in meinem Herzen, der mir neu war: einen Drang, mich: mein
Bestes und Tiefstes zu geben. Dieser Drang war frei von allen Motiven nach
äußerer Belohnung, Wertschätzung oder Anerkennung. Es
war ein Drang an sich, die Lust sich auszudrücken, auszuweiten, das
zu teilen, was ich bin. Als ich anfing, diesem ungewohnten Gefühl
nachzugehen und es in die Praxis umzusetzen, erkannte ich, daß in
diesem Wunsch nach geben das Nehmen enthalten ist, ja, daß zwischen
beiden kein Unterschied besteht. Es ist so, als wäre ich ein Trichter
mit zwei Öffnungen. Während ich aus dem Herztrichter die Energie
nach außen schicke, wird der Trichter über den Scheitelpunkt
nachgefüllt. Dies ist keine Vorstellung, sondern ein reales körperliches
Gefühl. Und in diesem Geben liegt keine Selbstausbeutung, sondern
Freiheit, Fülle und Freude.
Ein Leben in Verantwortung, Vergebung, Dankbarkeit und Dienst an
anderen bedeutet nicht, daß unsere Tage nur noch von Glück erfüllt
sind. Schmerz und Verlust gehören ebenso zum Alltag wie Freude und
Erfüllung. Der Unterschied zur Leidenssucht liegt darin, daß
ich mich nicht auf den Schmerz fixiere und ihn kultiviere, sondern ihn als
Teil des Lebens annehme und ihn als Zeichen werte, daß mein Leben
aus der Balance geraten ist. Es ist wie bei Zahnweh. Ohne den Schmerz wüßte
ich nicht, daß der Zahn Behandlung braucht. Seelischer Schmerz ist
ein Zeichen, daß meine Gefühls- oder Gedankenwelt aus dem Gleichgewicht
geraten ist. Den Schmerz wegzudrücken ist keine Lösung. Er kommt
als körperlicher Schmerz zurück. Die Lösung liegt darin,
hinzuschauen, was uns der Schmerz mitteilen will, und die Dinge zu ändern,
die an seiner Wurzel liegen. Manchmal braucht dies viele Jahre. Doch spielt
nach meiner Erfahrung die Zeit keine Rolle mehr, wenn ich weiß, daß
ich auf dem richtigen Weg bin.
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